Eine Spurensuche zwischen Original und Bearbeitung
„Der musikalische Vortrag kann mit dem Vortrage eines Redners verglichen werden. Ein Redner und ein Musikus haben sowohl in Ansehung der Ausarbeitung der vorzutragenden Sachen, als des Vortrages selbst, einerley Absicht zu Grunde, nämlich: sich der Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affect zu versetzen.“[1]
Dieses Zitat von Johann Joachim Quantz aus seinem berühmten „Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen“ ist auch für unsere heutige Beschäftigung mit Musik von größter Wichtigkeit. Wie es gewesen sein muss, allein durch Musik Gefühle und Emotionen bei den Zuhörer*innen zu erzeugen, in einer Welt, die kein Fernsehen, kein Radio und kein Internet kannte? Wie direkt und unmittelbar muss die Begegnung zwischen ausführenden Künstlern und Publikum gewesen sein? Wir können nur versuchen uns diesen Zustand vorzustellen und uns in unserer interpretatorischen Arbeit darauf zu besinnen…
Musiker*innen sind und waren also schon immer auch Erzähler*innen. In diesem Sinne möchte ich mich für das Konzept der CD „Caffe⸗Hauß Zimmermann“ in die Grauzone zwischen Wahrheit und Mythos, aufführungspraktischen Regeln und den Möglichkeiten der stilgetreuen Bearbeitung begeben.
Stellen wir uns eine Szene im Leipzig der 1730er Jahre vor. Wir befinden uns im berühmten Kaffeehaus von Gottfried Zimmermann in der Katharinenstraße Nr. 14. Der Saal ist bereits gut gefüllt, es wird getrunken und gespeist. Nun betritt Johann Sebastian Bach den Raum, gefolgt von einem fahrenden Blockflötenvirtuosen (oder – wenn wir uns schon ins Reich der Imagination begeben – vielleicht sogar einer Virtuosin?) …
Ich stelle ich mir vor, wie sich Bach ans Cembalo setzt und nun ad hoc, vom Blatt, vielleicht sogar auf Zuruf und Wunsch des gespannt lauschenden Publikums gemeinsam mit dieser unbekannten Person an der Blockflöte musiziert. Es ist heute bekannt, dass die beruflichen Zwänge an Kirche und Thomasschule Johann Sebastian Bach zeitweise durchaus belasteten. Die Leitung des „Collegium Musicum“ im Kaffeehaus Zimmermann muss für ihn eine willkommene Abwechslung gewesen sein; ein Zurückkommen zur Musik und all dem was lebendiges Musizieren in einer live-Atmosphäre mit aufmerksamem Publikum ausmacht.
Natürlich berührt dieses Bild aufführungspraktische Fragestellungen: Die Blockflöte war zur Barockzeit ein Instrument auf das man sich nicht ausschließlich spezialisierte. Viel eher erwarb man blockflötistische Fähigkeiten im Rahmen einer Ausbildung zum „Stadtpfeifer“, im Zuge derer man weiters Instrumente wie Oboe, Fagott, Trompete, Posaune, Zink, Schalmei und verschiedene Streichinstrumente erlernen konnte. Wir kennen historische Berichte, in denen das Blockflötenspiel einiger Persönlichkeiten durchaus besonders gelobt und hervorgehoben wird (beispielsweise über Giuseppe Sammartini, John Baston oder James Paisible), doch keine dieser Persönlichkeiten war ausschließlich als Blockflötist tätig.
Wir wissen, dass Bach einige seiner herausragenden Kammermusikwerke bestimmten Instrumentalisten auf den Leib geschrieben hat. Doch es verwundert nicht, dass er zu seiner Leipziger Zeit keinen Blockflötenvirtuosen traf, der ihn zu einer großen Sonate inspiriert hätte (ein Schicksal, das wir Blockflötist*innen beispielsweise mit den Fagottist*innen teilen…). Vermutlich ist die damalige Stellung des Instruments wie oben beschrieben mit für diesen Umstand verantwortlich.
Doch die Blockflöte hat – wie viele andere Instrumente auch – vom Barock bis heute eine spannende instrumentaltechnische Entwicklung durchgemacht, an deren vorläufigem Zielpunkt ein höchst variables, in verschiedensten Stilen einsetzbares und durchaus solistisches Instrument steht. Die Zahlen derer, die sich heute für ein reines Blockflötenstudium entscheiden, sprechen für sich, ebenso die Tatsache, dass die Blockflöte in unterschiedlichsten Besetzungen in den Konzertkalendern und Radiosendungen durchaus prominent vertreten ist.
Die gegenüber dem Barock vollkommen veränderte Rolle dieses Instruments inspirierte mich zu dem Gedanken, der Blockflöte einen imaginären „Gastauftritt“ im berühmten Kaffeehaus von Gottfried Zimmermann zu ermöglichen. Die ausgewählten Stücke haben einerseits Bezug zu Johann Sebastian Bachs Wirken als Lehrer, andererseits zu seiner Rolle als interessierter Kollege, der eine Vielzahl der Werke anderer Komponisten studierte und teilweise selbst bearbeitete. Eine weitere spannende Fragestellung war, welche Werke sich wohl besonders für eine Bearbeitung im historischen Sinne eignen. Hierbei wurden Stücke ausgewählt, deren Rezeptionsgeschichte im Bezug auf „Originalität“ und Autorschaft spannende Details bergen. Hier zeigte sich, wie spannend es sein kann, durch eine veränderte Besetzung ein bekanntes Stück noch einmal ganz neu hörend zu erleben. Und nicht zuletzt wollte ich auch unter Verwendung von sieben unterschiedlichen Blockflöten möglichst viele verschiedene klangliche Facetten dieses wunderbaren Instrumentes zeigen.
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[1] Johann Joachim Quantz: „Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen“, Berlin, 1752
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